die Hölle in mir ist abstakt aber nicht immer formvollendet
Kurzgeschichten

Die Hölle in mir

Ich sitze in einem abgedunkelten Motel Zimmer und warte. Sie werden kommen. Ich weiß nur nicht wann. Die Beretta29 liegt neben mir. Das doppelreihige Magazin umfasst fünfzehn Patronen.

Ich kann Dunkelheit nicht leiden. Vielleicht hasse ich sie auch, denn früher oder später wird sie zu dem Dunkel, das immer im Beichtstuhl herrschte. Ich bin wieder acht Jahre alt. Ich höre seine Kleidung rascheln. Der Knoblauchatem schlägt mir entgegen. Für einen Augenblick bin ich wieder der schüchterne, Fußball begeisterte Junge, der voller Angst auf die Hölle wartet.

Der Schluck Whisky gleitet über meine Zunge den Rachen hinunter. Die Flüssigkeit hinterlässt ein brennendes Gefühl, mit dieser seltsamen Wärme, die alles auslöscht. Ein gutes Gefühl, selbst wenn die Welt in Flammen steht und in Blut eintaucht.

Mein Blick zurück ist im Zorn. Zorn ist meine Haupteigenschaft. Sie hat mich mein Zuhause gekostet und mir gerichtlich verordnete Therapien eingebrockt. Neuerdings bin ich in der Sicherheitsabteilung dieses Hotels angestellt, wo ich wütend sein kann, ohne gleich jemanden umzubringen.

Das Hotel gehört zu den besten in dieser Stadt und wird von vielen Möchtegernstars und gelegentlich auch echten Promis besucht. Im Vergleich mit denen stehe ich gut da. Meine Abwärtsspirale hat mich nicht bis ganz unten gezogen. Ich trage jetzt einen Anzug, mache einen auf wichtig und bekomme Geld dafür. Hin und wieder gebe ich sogar dem Hotelpersonal Anweisungen, sofern sie keinen Anzug tragen. Das Schönste hier, ist aber Melissa.

Sie arbeitet im Wellnessbereich des Hotels und ist für ihre Arbeit mit heißen Steinen bekannt. Ich bin auf dem Weg zu den Aufzügen und komme an ihrem Zimmer vorbei. Die Musik gefällt mir.

»Die meisten Hotelmasseurinnen stehen auf Enya oder den monotonen Klang von Wellen, die an den Strand laufen.«

Melissa lacht.

»Ich nicht.«

»Mag deine Kundschaft wirklich Rockmusik?« Meine Frage scheint sie nicht zu verwundern. Sie zuckt mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Die meisten sind vor allem damit beschäftigt keinen Ständer zu kriegen.«

»Berufsrisiko, nehme ich an?«

»Allerdings.«

Melissa ist hübsch. Aber da ist noch etwas Anderes. Eine spürbare Aura, die selbst dann eine gewisse Schwüle verbreitet, wenn die Klimaanlage auf vollen Touren läuft. Sie bemerkt die Schwellung auf meinem rechten Handrücken.  

»Hässlichen Tag gehabt?«

»Nein, wie immer.«

Sie streckt die Hand aus, berührt mein Gesicht und streicht mit den Fingern über meine rechte Wange.

»Ich bin Empathin«, sagt sie und ich habe ehrlich keine Ahnung was sie meint. »Es tut mir leid.«

»Was denn?«

»Was immer dir das angetan hat.«

In ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck, als könne sie diesen Teil von mir spüren. Diesen Abgrund, den ich selbst nur ganz selten sehe. Und auch nur, wenn der Whisky seine volle Wirkung entfacht.

»Das ist eine Gabe oder besser gesagt mein Fluch.«

In den folgenden Wochen lerne ich eine Menge. Eine Empathin muss jemanden nur berühren um Bescheid zu wissen. Sie berührt Haut und Knochen, dabei berührt sie die Seele. Sie kann mit ihren Händen sehen. Und zwar alles, das Gute, das Böse und das richtig Widerliche. Meistens sieht Melissa mehr Widerliches. Abends treffe ich sie. Ihre Hände umklammern einen Stapel Handtücher. Ich schaue in ihre Augen. Sie wirken traurig. Es gehe um einen ihrer Kunden, erklärt sie mir.

»Meistens sehe ich nur Gefühle«, vertraut sie mir an. »Du weißt schon. Freude, Trauer Furcht, Sehnsucht – all so was. Ich spüre, wer sie wirklich sind, verstehst du?«

»Nicht so richtig.«

»Der Kerl. Er kommt gleich. Ich berührte ihn gestern zum ersten Mal und ich musste meine Hand sofort wieder zurücknehmen. Es war einfach zu stark.«

»Was?«

»Dieses Gefühl von etwas Bösem. Als würde man…ich weiß nicht…in ein schwarzes Loch greifen.«

»Welche Art Böses meinst du?«

»Das Schlimmste.«

Später sitzen wir in einer Bar und trinken. Unser erstes Date sozusagen. Melissa erzählt mir alles.

»Er tut Kindern weh«, erklärt sie.

Meine Vorstellungsgabe blüht auf Hochtouren. Ich spüre Übelkeit. Ein unbestimmter Anflug von Schmerz setzt ein, der das noch verstärkt. Ich sehe meinen kleinen Bruder, seine Firmung und die sogenannte Ehre ein Messdiener zu werden. Ich empfinde ein Kotzgefühl, meinetwegen. Sag nichts bläute ich mir damals ein, sag bloß nichts. Aber Schweigen hat seinen Preis. Ich kann die Bilder nicht vergessen. Bernd baumelt am Fensterkreuz in unserem Kinderzimmer. Mein Gürtel schneidet in seinen Hals. Ausgerechnet mein Gürtel.

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es. Er hat irgendwas vor. Und er hat es schon mal getan.«

»Geh zur Polizei.«

Melissa sieht mich an, verständnislos, schüttelt den Kopf.

»Soll ich denen sagen, ich sei Empathin? Ich spüre, daß mein Kunde die Hölle in sich trägt? Die…«

»…lachen dich aus. Du hast vollkommen Recht.«

Einige Tage später sieht Melissa besonders unglücklich aus. Der spezielle Kunde hat sie wieder besucht. Ich biete ihr an, ein Auge auf ihn zu haben.

»Wie?«

Wir liegen in meinem Bett. Unsere Beziehung hat eine neue Stufe erreicht, wie man so sagt. Der Sex mit ihr ist eine Art Beruhigungsmittel, um vergessen zu können.

»Wann kommt er wieder?«

»Dienstag, um zwei.«

»Alles klar.«

Ich warte draußen vor dem Poolbereich, wo die Gäste schläfrig und zufrieden herumschlendern. Er sieht erschöpft aus und schleppt seine Last mit sich herum. Er steigt in sein Auto. Ich folgte ihm. Wir fahren kurz auf die Autobahn um nach wenigen Kilometern in einen Vorort der Stadt abzubiegen. Zielstrebig folgt er den Schildern, die auf Schulkinder hinweisen. Neben einem Spielplatz hält er an und bleibt im Auto sitzen.

Dieses lähmende Unwohlsein, bei dem ich mich am liebsten verkrieche, überkommt mich. Ich versuche mich zu beruhigen und beobachtete wie er aussteigt und zum Zaun geht. Wie er seine Brille abnimmt und an der Hose abwischt. Wie sein Blick über die Horde Kleinkinder gleitet. Die Aufmerksamkeit an einem kleinen Jungen hängen bleibt, vierte Klasse vielleicht. Wie er dem Jungen die Straße entlang folgt und sich Stück für Stück nähert.

Ich schaue zu und fühle mich machtlos. Bin gelähmt. Er spricht den Jungen an.

Der Mann streckt die Hand aus und fasst den Jungen am Arm. Ich sitze immer noch im Auto. Der Junge reißt sich los und rennt weg. Der Mann macht einige unschlüssige Schritte hinterher und bleibt stehen. Mein Atem geht schwer. Die Wut ist erneut mein Feind und mein Freund. Ich springe aus dem Auto, bereit den Jungen endlich zu beschützen. Ich denke an Bernd, meinen Bruder. Der Mann steigt in sein Auto und fährt davon. Ich stehe auf der Straße, das Herz pocht mir bis zum Hals.

In dieser Nacht sage ich Melissa, was ich tun werde. Wir liegen schweißüberströmt im Bett. Ich erkläre ihr, dass ich es machen muss. Die Wut ist jetzt fester Bestandteil meiner Gedanken. Sie hat Besitz von mir ergriffen, flüstert mir zu, hier gehörst du hin. Ich fühle mich gut, endlich. Zeit aktiv zu sein.

Am nächsten Nachmittag warte ich vor der Schule. Ich warte die ganze Woche. Am Montag taucht er schließlich auf und stellte sein Auto neben dem Eingang zum Spielplatz ab, in Fahrtrichtung. Er steigt aus und steuert zielstrebig auf den Eingang zu. Ich beeile mich und spreche den Mann an. Er dreht seinen Oberkörper zu mir. Ich stoße ihm die Pistole in den Rücken. Er gibt sofort nach und murmelt etwas von Geld was im Auto wäre.

»Halts Maul.« Meine Stimme klingt merkwürdig.

Brav wie ein Lamm steigt er in mein Auto und ich fessele ihn. Aus den Augenwinkeln heraus, bemerke ich eine Frau. Vielleicht eine Mutter, ist auch egal. Sie schaut zu uns herüber und zeigt mit dem Finger auf mich. Wir fahren los.

Ich kenne eine spezielle Stelle im Wald aus alten Zeiten. Die Gruppentherapiesitzungen fanden dort statt. Die Natur hilft immer, wenn man sie nur lässt. Geregeltes Wutmanagement heißt es. Die Gruppe hat mich später beglückwünscht, dass ich einfach bis zehn zähle und meine Impulse unterdrücken kann. Gerade diese Impulse haben es in sich und bringen den Ärger. Bei der Sandkuhle bleiben wir stehen. Sie steht randvoll mit Wasser, besser gesagt, es ist eine flüssige Brühe aus Dreck und Fäkalien.

»Wieso?« Sein Gesicht wirkt traurig.

»Mit acht Jahren habt ihr mich zerstört«, kreische ich. »Weil ich meinen Bruder umgebracht habe. Weil ich geschwiegen habe. Deshalb.«

Der Schuss aus der Beretta dröhnt. Sein Körper fällt um und er versinkt im Moder.

»Und weil du nichts anderes verdient hast.«

Meine Hand zittert. Soll ich noch einmal schießen? Eine Kugel erscheint mir zu wenig. Die Wut hilft. Vierzehn weitere Kanonenschläge geben mir Genugtuung.

Melissa geht nicht ans Handy. Sie soll erfahren was passiert ist.  Nach meiner Schicht stehe ich vor ihrer Wohnung und klopfe. Keine Reaktion. Im Hof finde ich jemanden, der herumwirtschaftet, Unkraut jätet.

»Haben sie Melissa gesehen?«

»Nein«, sagt er und schaut nicht mal hoch. »Sie ist weg.«

»Einkaufen?«

»Nein. Einfach weg. Sie wohnt nicht mehr hier.«

»Was soll das heißen? Wissen sie wohin sie ist?«

Er zuckt mit den Achseln. »Hat keine Adresse hinterlassen. Sie sind ihr Freund, nicht wahr?« Er hebt seinen Kopf und betrachtet mich. 

»Warum fragen sie?«

»Oder der Vater von dem Jungen?«

»Welchen Jungen meinen sie?«

»Melissa hat einen Sohn, wussten sie das nicht? Er ist acht Jahre und lebt bei seinem Vater in einem dieser Vororte.«

Meine Überraschung wechselt in böse Vorahnung.

»Trägt er eine Brille?«

Der Mann nimmt die Kehrschaufel und geht.

»Ja«, antwortet er.

Ich fahre zurück ins Hotel und überdenke die ganze Sache. Abends kommt die andere Masseurin, Akane. Ich bitte sie, mir von Melissa zu erzählen. Sie ist Empathin, ergänze ich.

»Sie ist was?« Akane lacht. »Wer hat dir den Blödsinn erzählt? Melissa?«

An diesem Punkt verstehe ich nichts mehr. Akane grinst. Selbst jetzt will ich nicht begreifen, was auf der Hand liegt.

»Melissa hat einen Sohn«, fange ich wieder an.

»Stimmt, netter Junge. Aber das hat er nicht von ihr. Okay, das war nicht fair. Sie hat einfach nur ein schlechtes Händchen für Männer.«

»Meinst du den Vater?«

»Melissa hat ein Drogenproblem und gerät immer wieder an die passenden Kerle.«

»Was ist mit dem Vater?«

»Der ist echt nett, mit Festanstellung und so. Sie hat ihn natürlich abgesägt. Jetzt kämpft er um die Vormundschaft.«

»Wieso?«

»Er ist der Ansicht, ein Drogenjunkie ist nicht gut für den Kleinen. Und sie versucht ihn ständig gegen seinen Vater aufzuhetzen. Widerlich. Du hättest mal den Streit hören sollen letzte Woche.«

»Letzte Woche? An welchem Tag?«

»Weiß nicht genau. Manchmal gibt er Geld für das Kind. Dienstag, glaub ich.«

»Zu welcher Zeit am Dienstag?«

»Keine Ahnung. Nach der Mittagspause.«

»Wie sieht er aus Akane?«

»Mein Gott, du stellst Fragen. Ungefähr so groß wie du, trägt ne Brille. Er macht nicht gerade einen glücklichen Eindruck.«

»Der Junge«, stöhne ich auf und begriff die volle Wahrheit. »Hat er braune Haare, kurz geschnitten, süßer Kerl?«

»Ja, das ist er.«

Die Explosion ist ohrenbetäubend. Die Tür zum Motel Zimmer fliegt weg. Ich sehe Schatten.

»Nicht bewegen.« Die Stimme klingt hart und kompromisslos. Ich drehe meinen Kopf und rudere mit meinen Armen. Der umgekippte Sessel neben mir gibt mir Halt. Die Beretta29 liegt vor mir. Meine Hand greift zum Stuhlbein. Schon wieder ein Knall. Wieso fließt plötzlich Blut aus meinem Mund? Mein Leben zieht an mir vorbei.

»Es stimmt«, durchzuckt mich ein Gedanke. »Ich muss es sagen.«

Meine Augen klammern sich an das hereinströmende Licht. Ich sehe Bernd. Er lebt. Mein kleiner Bruder hopst die Treppe herunter und lacht. Er ist nicht in der Hölle. Das ist gut zu wissen, ich freue mich. Der Schmerz verebbt. Schatten trüben meinen Blick. Ein schwarzes Loch greift nach mir. Etwas drückt gegen meine Schläfe, die Helligkeit erlischt.